Die kurze Antwort ist: Weil sie genauso passieren können wie körperliche Erkrankungen, jedem und jederzeit.
Ja, ich erkläre psychische Krankheiten gern im Vergleich zu körperlichen Erkrankungen, denn eigentlich haben Beide viel gemeinsam. Nur dass Menschen viel weniger Angst oder Scham empfinden, wenn sie wegen einer körperlichen Erkrankung zum Arzt gehen, als wenn sie wegen psychischer Symptome Hilfe suchen.
Kein Beinbruch, oder?
Als erstes, einfaches Beispiel nehmen wir einen Beinbruch: Sie sind von der Leiter gestürzt, hatten einen Autounfall oder ähnliches. Jetzt ist das Bein gebrochen und der Weg ist völlig klar: Ab ins Krankenhaus. Das muss gerichtet werden und ein Gips drum, in schlimmen Fällen ist sogar eine Operation nötig und natürlich nimmt man Medikamente gegen die Schmerzen.
Mit der Psyche ist es genauso: Wenn einem das Leben ordentlich dagegen fährt oder man einen Absturz hat, dann kann sie – wie der Volksmund sagt – auch einen Knacks bekommen. Viele Menschen schämen sich dann aber, suchen keine Hilfe und hoffen, dass es irgendwie von alleine weggeht. Wieso denn?
Wenn Sie von der Leiter stürzen, sagt ja auch kein Arzt: „Ach, das war aber nur eine kleine Trittleiter! Was stellt ihr Bein sich denn so an, dass es gleich bricht?“
Wenn man seinen Arbeitsplatz verliert, eine Trennung durchmacht oder eine andere schwierige Lebenssituation, dann kann einem das den Boden unter den Füßen weg ziehen, dann kommt der psychische Absturz und vielleicht auch der Knacks, der Bruch.
Machen Leute fallen drei Meter von der Leiter und kommen mit einer Schramme davon. Andere stolpern ungünstig auf gerader Ebene und tragen einen komplizierten Bruch davon. Ausschlaggebend ist nicht die Ursache, sondern die Krankheit, die entsteht.
Und dann gibt es noch die Ermüdungsbrüche, bei denen ein Knochen scheinbar ohne Ursache bricht. In Wirklichkeit ist es aber die Folge einer jahrelangen Überbelastung, die der Betroffene vielleicht nicht mal bemerkt hat.
So ist es in der Psychologie auch. Niemand kann Ihnen vorschreiben, wie lange ihre Situation wie schlimm sein muss, damit Sie sich wie viele psychische Symptome „erlauben dürfen“, oder was Sie aushalten müssen, ohne sich „anzustellen“.
Wenn ein Knochen gebrochen ist, ist er gebrochen und braucht Behandlung.
Wenn eine Psyche gebrochen ist, gilt das Gleiche.
Ganz von selbst krank?
Und es gibt ja nicht nur Brüche. Manche Krankheiten kommen ganz ohne Unfall oder Selbstverschulden. Vielleicht sind sie vererbt, vielleicht spielt eine Infektion eine Rolle. Bei vielen körperlichen Erkrankungen weiß man bis heute nicht genau, woher sie kommen – gerade bei den ernsten Erkrankungen, wie Krebs, Rheuma oder multipler Sklerose.
Auch das ist bei der Psyche möglich. Vor allem Psychosen und Depressionen können auch völlig unerwartet, aus heiterem Himmel auftreten. Auch für Ängste, Zwänge und Essstörungen gibt es meist nur Hinweise auf die Ursachen, aber keine ganz klaren Zusammenhänge.
Ganz besonders, wenn psychische Symptome aus heiterem Himmel auftreten, oder schon bekannt ist, dass sie in der Familie vorkommen, sollte ein Arzt oder Psychologe näher draufschauen und ermitteln, ob sich da vielleicht eine ernste Erkrankung anbahnt, die dringend Behandlung braucht oder ob man vielleicht einen sogenannten Risikofaktor hat, bei dem man mehr aufpassen muss, eine bestimmte Erkrankung nicht zu bekommen.
Selber schuld?
Und natürlich gibt es auch die Krankheiten, die man vielleicht hätte verhindern können, wenn man sich selbst anders verhalten hätte: Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben oft mit Ernährung, mangelnder Bewegung oder Stress zu tun. Trotzdem schämt sich kaum ein Herzpatient zum Arzt zu gehen. Und auch der Lungenkrebspatient, der 20 Jahre lang geraucht hat, bekommt ohne Wenn und Aber seine Behandlung. Der Arzt kann ihm nur dringend raten, das Rauchen aufzugeben. Mehr nicht.
Also: Auch, wenn Sie es hätten besser wissen können, es gar nicht so lange in dem stressigen Job oder der toxischen Beziehung hätten aushalten sollen, oder wenn Sie natürlich wussten, dass so viel Alkohol nicht mehr gesund ist: Wir Menschen sind nicht immer vernünftig. Oft hoffen wir, es wird schon gut gehen, es wird wieder besser, dass wir es schon schaffen werden oder wir wissen es einfach nicht besser.
Wenn Sie davon krank werden, körperlich oder psychisch, brauchen Sie Behandlung. Und gerade eine psychologische Behandlung kann einem dabei helfen, sein Leben so zu verändern, dass man weitere Schäden vermeidet, wenn es zum Beispiel um Süchte oder ungünstige Gewohnheiten geht, die wir einfach nicht loswerden können oder um Ängste, die wir selbst nicht mehr bewältigen können.
Gibt’s denn auch psychische Infektionen?
Jetzt kommt vielleicht der überraschendste Teil des Vergleichs, nämlich der mit ansteckenden Krankheiten. Das ist ein schwieriges Thema, denn eigentlich arbeiten Psychologen und Psychiater seit Jahrzehnten daran, Menschen klar zu machen, dass psychische Krankheiten nicht ansteckend sind. Das sind sie auch grundsätzlich nicht. Es gibt kein Depressionsbakterium und kein Angstvirus, das die gleiche Erkrankung von einem auf den anderen Menschen übertragen kann.
Doch jetzt kommt das große Aber: Wenn man sehr viel mit dem Leid psychisch Kranker zu tun hat, kann man auch selbst Symptome entwickeln. Das passiert nicht durch ein paar Gespräche oder weil man mit jemandem befreundet ist. Wenn man jedoch jeden Tag mit schwerstem Leid konfrontiert ist, sei es körperlich oder seelisch, dann kann einen das natürlich auch mitnehmen. Das kann durch einen Beruf sein, in dem man mit Schwerkranken Menschen zu tun hat, aber viel häufiger, weil jemand im engen privaten Umfeld erkrankt ist.
Oft zeigt sich das in Familien: Ein Partner kann zum Beispiel überfordert sein, wenn die Suchterkrankung des anderen Partners ihn davon abhält, sich um die Kinder oder seine Aufgaben im Haushalt zu kümmern, einfach weil nun alles an einem hängen bleibt, was sich sonst auf zwei Paar Schultern verteilt. Oder die ganze Familie kann darunter leiden, wenn wegen der Erkrankung Geld fehlt (z.B. weil der Erkrankte nicht arbeiten kann, oder aufgrund einer Sucht viel Geld verbraucht). Da sind wir dann wieder eher bei dem Beispiel von oben, dem Ermüdungsbruch.
Besonders bei Depressionen, kann aber auch die ständige negative Weltsicht mit der die Angehörigen konfrontiert werden, irgendwann abfärben und bei ihnen selbst zu depressiven Symptomen führen. Auch Ängste werden von Angehörigen, vor allem Kindern, die noch von ihren Eltern lernen, oft übernommen.
Im Gegensatz zu Infektionskrankheiten dauert das aber meist eine ganze Weile und lässt sich auch beheben bzw. vorbeugen, wenn alle Beteiligten sich rechtzeitig Hilfe suchen.