Was machen Krieg und Trauma eigentlich mit der Psyche?
Krieg ist fürchterlich.
Das ist uns allen klar, spätestens seit wir täglich Bilder aus der Ukraine in den Medien sehen.
Die meisten von uns können sich denken oder haben schon davon gehört, dass Menschen, die Krieg und Flucht erlebt haben, davon stark erschüttert oder gar traumatisiert sind.
Aber was heißt das eigentlich?
Was passiert wirklich aus psychologischer Sicht, wenn jemand solche Szenen selbst erlebt hat?
Wie können wir Menschen helfen, die traumatische Erlebnisse hinter sich haben?
Und wie gehen wir mit unserem eigenen Stress dabei um?
Auf den folgenden Seiten habe ich versucht Antworten auf diese Fragen verständlich zusammenzufassen.
1. Was ist ein Psychotrauma?
2. Welche Folgen können nach einem Trauma auftreten?
3. Was brauchen Betroffene?
4. Was brauchen Helfende?
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1. Was ist ein Psychotrauma?
Ein traumatisches Ereignis ist ein Ereignis, dass so gravierend ist, dass es die Verarbeitungsfähigkeit des Organismus überfordert (z.B. durch Angst oder Schmerz).
Meist sind das unmittelbar lebensbedrohliche Ereignisse. Mittlerweile wissen wir aber, dass auch Situationen, die nicht unmittelbar lebensbedrohlich sind oder Schwerstverletzungen hervorrufen, wie Traumata wirken können. (Paradebeispiel ist hier sexualisierte Gewalt, bei der es außerhalb von Kriegskontexten statistisch selten zu objektiver Lebensbedrohung kommt. Dennoch sind die psychischen Folgen verheerend.)
Selbst instinktive Notfallreaktionen wie Kampf oder Flucht* sind nicht möglich oder nicht hilfreich. Es bleibt oft nur Erstarren und Aushalten des Unaushaltbaren.
Betroffene erleben eine völlige Ohnmacht und Verlust der Kontrolle über ihre Situation. Extremes Leid kann nicht verhindert werden.
Das kann schwere Folgen für die Psyche haben.
*Geflüchtete sind zwar noch geflohen, aber allein die Tatsache, dass kein anderer Ausweg mehr blieb und dass das Leid (Verletzung, Verlust der Heimat, Angehöriger etc.) nicht verhindert werden konnte, sind traumatisch. Die Erlebnisse auf der Flucht sind in fast allen Fällen weitere Traumata, (teils lebens-) bedrohliche und belastende Einzelsituationen, denen die Menschen ziemlich hilflos ausgeliefert sind.
2. Welche Folgen können nach einem Trauma auftreten?
Was passiert im Gehirn bei und nach einer traumatischen Situation?
Bei einem traumatischen Erlebnis werden Erinnerungen nicht wie gewohnt zusammenhängend gespeichert, sondern fragmentiert, zersplittert, wie ein ungelöstes Puzzle. Oft kommt es dabei zu Erinnerungslücken.
Ein einzelner scheinbar unzusammenhängender Hinweisreiz (Trigger) kann aber die ganze traumatische Erinnerung plötzlich reaktivieren, sodass sie sich unkontrolliert aufdrängt.
Das nennen wir auch Intrusionen. Dadurch kommt es zu:
- Flashbacks*,
- Panikattacken,
- Alpträumen.
*Ganze Situationen oder Bruchstücke werden ähnlich einer Halluzination wiedererlebt. Betroffene glauben für den Moment wieder in der Situation zu sein. Wahrnehmungen von damals, wie Panik und Schmerz werden wieder empfunden.
Trigger für solche Intrusionen können nicht nur Reize sein, die wir bewusst mit dem Trauma verbinden (wie z.B. ein lauter Knall oder Feuer), sondern auch irgendetwas völlig harmloses, das in der traumatischen Situation zufällig mitabgespeichert wurde – sogar positive Reize (Kaffeeduft, Sonnenschein).
Oft lässt sich nichts genau sagen was alles als Trigger fungieren kann. Durch die unverarbeitete Erinnerung kann es zu vielen weiteren Symptomen kommen:
Weitere Symptome
Neben den sich immer wieder aufdrängenden Erinnerungen, die oft in Form der beschriebenen Flashbacks oder Alpträume auftreten, kommen meist diverse weitere Symptome hinzu:
- Vermeidung von Reizen und Situationen, die an das Trauma erinnern. Das kann soweit gehen, dass Menschen sich nicht mehr vor die Tür trauen, aus Angst, dass wieder etwas die Erinnerung triggert.
- Aber auch zwanghaftes, exzessives Wiedererinnern kommt vor. Betroffene versuchen (teils auch bewusst) durch Wiedererinnern die Erinnerung zu vervollständigen, ihr einen Sinn zu geben, den Schrecken begreifbar zu machen und suchen fast zwanghaft Informationen und Bilder bis hin zu Reinszenierung traumatischer Situationen (letzteres ist häufiger bei Kindern z.B. im Spiel zu beobachten).
- emotionale Abstumpfung: was früher Spaß gemacht hat, löst keine Freude mehr aus, Anteilnahme am Leid anderer wird nicht mehr empfunden.
- ständige Anspannung und Schreckhaftigkeit (sogenannte Hypervigilanz): die Psyche bleibt im Krisenmodus und erwartet immer und überall Gefahr, dadurch kommt es auch zu…
- …Schlafstörungen,
- …Konzentrationsstörungen,
- …und Stimmungsschwankungen, bis zur Depression,
aber auch Reizbarkeit und aggressives Verhalten - psychosomatische Symptome (Schmerzen, Verdauungsstörungen etc.),
- dissoziative Symptome (Gefühl von sich selbst losgelöst zu sein, oder dass Dinge nicht real sind, Realitätsverzerrung)
- sozialer Rückzug und das Gefühl nicht mehr dazuzugehören, u.A. weil andere das Erlebte und dessen Folgen nicht verstehen können
- Nichts ist wie vorher – Die Welt ist kein sicherer Ort mehr.
Was beeinflusst das Auftreten von Traumafolgen?
Die gute Nachricht zuerst:
Viele Menschen erholen sich nach einem Trauma wieder und können später ein erfülltes Leben leben, in dem sie sich wieder völlig gesund und sicher fühlen. Und auch wenn es psychische Folgen gibt, sind diese mit der richtigen Behandlung oft heilbar. Einige Menschen leiden aber auch noch Jahre später an den psychischen Folgen von Traumata, weil die Auswirkungen so gravierend waren und/oder weil keine adäquate Hilfe zur Verfügung stand.
Die Folgen sind schlimmer…
- … je länger oder häufiger traumatische Ereignisse auf die Betroffenen einwirken.
- … wenn die Ereignisse menschengemacht und keine Unfälle oder Naturkatastrophen sind, weil das Vertrauen in Mitmenschen fundamental erschüttert wird.
- … je weniger äußere und innere Ressourcen einzelnen Personen zur Bewältigung zur Verfügung stehen. Das gilt vor allem für Menschen, die zusätzlich noch andere Belastungen haben, aber auch und vor allem Kinder.
- … wenn ein Trauma allein, nur von einer Person erlebt wird, weil diese dann aus ihrer Verbundenheit mit anderen herausgerissen wird.
- … wenn nach dem Trauma oder während komplexer traumatischer Situationen keine adäquate Hilfe zur Verfügung steht.
Welche psychischen Krankheiten können als Folge von Traumata auftreten?
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
- anhaltende Persönlichkeitsveränderung nach einem Trauma, auch komplexe PTBS
- Anpassungsstörung als milde Form, die aber auch nach nicht-traumatischen Belastungen auftreten kann,
- genauso wie die posttraumatische Verbitterungsstörung, bei der vermehrt die Ungerechtigkeit der Erfahrung wahrgenommen
und mit aggressiven Gefühlen reagiert wird.
Das Vollbild einer PTBS oder gar Persönlichkeitsveränderung tritt aber viel seltener auf als andere Folgeerkrankungen, bei denen die traumatische Ursache in der Diagnose nicht auftaucht und leider auch oft in der Therapie vernachlässigt wird:
- Depressionen,
- psychosomatische Erkrankungen,
- Angsterkrankungen (spezifische Ängste, auch generalisierte Angststörung),
- Suchterkrankungen (wenn Betroffene mangels adäquater Hilfe versuchen ihre Symptome selbst zu betäuben).
- bei Kindern und Jugendlichen können zusätzlich Entwicklungsverzögerungen, emotionale und Verhaltensstörungen dazukommen, v.a. ADHS, Einnässen etc. und im weiteren Verlauf können sich Persönlichkeitsstörungen (z.B: Borderline) entwickeln.
3. Was brauchen Betroffene?
Sicherheit und Normalität
Das ist der erste und wichtigste aber auch gleichzeitig der der schwierigste Teil, bei den meisten Menschen mit traumatischen Erfahrungen, ganz besonders aber bei Geflüchteten, die oft über Monate und Jahre jenseits dessen leben müssen, was Sicherheit und Normalität für sie bedeutet hat.
Auch wenn aus unserer Sicht Deutschland für Geflüchtete sicher ist:
- Der Krieg in ihrer Heimat geht weiter. Ihr Zuhause wird weiter zerstört. Geliebte Menschen sind vielleicht noch dort und in ständiger Gefahr.
- Sie sind oft Fremdenhass ausgesetzt.
- Manche nutzen Unwissenheit und Ängste aus, um sie um das wenige zu betrügen, das sie haben.
- Sie werden leichter Opfer von sexualisierter Gewalt.
Selbstbestimmung
Da der Krieg, die Flucht und die Erfahrung völliger Hilflosigkeit in schrecklichen Situationen, den Menschen so viel Kontrolle über ihr Leben weggenommen haben, ist es wichtig ihnen sobald wie möglich ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Nur so können sie die Erfahrung machen, dass sie nicht restlos der Situation ausgeliefert sind, sondern selbst etwas tun können, um ihr Leben so gut wie möglich zu gestalten. Das senkt übrigens auch das Risiko für psychische Erkrankungen und ist nebenbei nützlich für unsere Gesellschaft, die durch gesunde, engagierte Menschen nur bereichert werden kann.
Dazu gehört aber auch Menschen nicht auf ihr Trauma zu reduzieren. Trauma braucht den Raum, den es eben braucht, aber es sollte nicht zusätzlich forciert werden. Wir sollten uns bewusst machen, dass Geflüchtete Menschen möglicherweise mit Traumafolgen und
-symptomen zu uns kommen und versuchen sie vor diesem Hintergrund zu verstehen, wenn uns Symptome und Verhaltensweisen auffallen.
Aber in erster Linie kommen da ganz individuelle Menschen, auf die wir uns einlassen sollten, genau wie auf Menschen, die wir in anderen Situationen kennenlernen. Auch das gibt ein Stück Normalität, Selbstbestimmung und nicht zuletzt Menschenwürde.
Was behindert Selbstbestimmung?
- Geflüchtete können meist die Sprache im Ankunftsland nicht, was eine große Barriere für Selbstbestimmung darstellt, da ohne Sprache fast nichts ohne Hilfe möglich ist.
- Trotz der Ähnlichkeit unserer Kulturen, ist manches vielleicht anders, verunsichernd. Geflüchtete kennen sich mit der Bürokratie nicht aus. Der Öffentliche Nahverkehr ist vielleicht anders geregelt etc.
- Sie sind auf Hilfe angewiesen, finanziell, sprachlich etc. So notwendig es auch ist, es nimmt ihnen ein Stück Selbstbestimmung weg.
- Nicht zuletzt wird ihr Trauma entweder ignoriert oder sie werden auf ihren Geflüchtetenstatus und damit auf ihr Trauma reduziert, was ebenfalls nicht hilft, sich menschenwürdig ein neues Leben aufzubauen.
Individuelle Unterstützung
Nach all den allgemeinen Informationen zum Ablauf von Traumata und ihren Folgen ist es wichtig zu sagen, dass jeder Mensch Traumata anders verarbeitet. Die beschriebenen Symptome und Abläufe treten bei manchen vielleicht verzögert auf, bei anderen kurz und heftig und verschwinden dann wieder. Manche haben vielleicht das Vollbild einer PTBS, bei anderen sind nur Einzelsymptome vorhanden oder die Folgen des Traumas verlagern sich in ganz andere psychische Bereiche oder Erkrankungen.
Deshalb kann ich hier zwar erste Tipps und Richtlinien zur Orientierung mitgeben aber keine Pauschalaussagen für individuelle Fälle treffen.
Beispiele:
- Für manche Wenige bedeuten Sicherheit und Selbstbestimmung, dass sie erst einmal nichts tun müssen, dass sie Zeit haben zu heilen und dabei geschützt und gut versorgt sind. Vielleicht möchten sie sich erst einmal vor der schlimmen Realität verkriechen, um sich zu schützen.
- Für die meisten aber bedeuten Sicherheit und Selbstbestimmung, schnell wieder auf eigenen Füßen zu stehen, sich selbst versorgen zu können. Deshalb wollen viele Geflüchtete schnell Deutsch lernen, arbeiten gehen und eine eigene Wohnung haben.
So wichtig und notwendig unsere Hilfsangebote sind und so dankbar sie auch angenommen werden, am liebsten wollen die meisten Menschen nicht darauf angewiesen sein. Sie möchte die Kontrolle über ihr eigenes Leben so weit wie möglich zurück.
Was können wir also tun?
Auf Augenhöhe und mit Respekt begegnen. Klingt banal, aber es gibt bei vielen eine oft unbewusste und gut gemeinte Tendenz „hilfsbedürftig“ mit „unmündig“ zu verknüpfen. Erklären Sie immer so viel wie möglich, damit die Menschen, denen Sie helfen möchten die jeweilige Situation gut verstehen und ihre eigenen Entscheidungen treffen können. Allein das gibt Sicherheit und Selbstbestimmung.
Nehmen Sie Dank an. Natürlich sollen Sie nicht das letzte Geld oder Hemd von jemandem nehmen oder Arbeitskraft ausnutzen. Aber für viele Menschen, die Hilfe bekommen, ist es auch wichtig schon früh zu versuchen etwas zurückzugeben, sich nützlich zu machen. Geben Sie Menschen, die Ihnen für Ihre Hilfe danken wollen, in angemessenem Rahmen die Chance dazu. Auch das gehört zu Begegnung auf Augenhöhe und so können sich echte Freundschaften entwickeln, statt einseitige Gebe-Beziehungen.
Positive Inselerfahrungen – aber eher KEINE Überraschungen
In all dem Chaos und Elend die Lebensfreude nicht vergessen! Machen Sie auch Angebote, die Spaß machen: gemeinsame Koch- oder Grillabende, basteln mit Kindern, Ausflüge in Zoo oder Schwimmbad, Dinge, bei denen Sprache nicht so wichtig ist.
Wichtig hierbei ist Transparenz und Freiwilligkeit. Natürlich haben manche Menschen, nach ihren Erfahrungen nicht immer Lust sich zu vergnügen. Fragen Sie, ob und auf was die Menschen, die Sie begleiten, Lust haben. Machen Sie immer wieder Vorschläge, aber keine ungefragten Überraschungen. So gern wir unter normalen Umständen Überraschungen mögen, sie nehmen ja mit Absicht ein ganzes Stück Kontrolle und Vorhersehbarkeit in einer Situation weg. Das ist für Menschen nach traumatischen Erfahrungen oft nicht angenehm, auch wenn die Überraschung positiv ist.
Stellen Sie Geflüchteten Handys und Internetzugang zur Verfügung. Was für manche wie uns immer noch wie Luxusprodukte aussieht, ist zum einen längst Standardausstattung. Zum anderen haben diese Dinge für Geflüchtete eine ganz andere Bedeutung: Kontakt nach Hause, wichtige Informationen, vor allem die Sicherheit, dass Angehörige und Freunde im Kriegsgebiet noch leben.
Spenden. Die erste Spendenwelle ist bereits abgeflaut. Es fehlt überall an Waren und Gütern, um Geflüchtete und auch Menschen in der Ukraine zu versorgen.
Nicht die gesamte Hilfe für die Ukraine und ihre Bürger kann ehrenamtlich geleistet werden. Es braucht jede Menge professionelle Vollzeithelfer, deren Arbeitsplätze finanziert werden müssen. Spenden ist keine schlechtere oder zu einfache Art zu helfen.
Zivilcourage: Machen Sie den Mund auf, wenn in Ihrem Umfeld fremdenfeindliche Kommentare fallen. Das erfordert Mut und kann auch mal die Stimmung versauen, aber es ist wichtig Solidarität auch offen zu zeigen.
Begleiten Sie Geflüchtete bei Behördengängen, unterstützen Sie bei Papierkram, Wohnungssuche, Jobsuche etc.
Sprachunterricht. Auch wenn Sie keine Ausbildung dazu haben. Wir alle können anderen Menschen Grundlagen unserer Muttersprache vermitteln, damit sie sich verständlich machen und andere verstehen können – notfalls mit Bildern aus dem Internet, Händen und Füßen. Das macht sogar Spaß!
4. Was brauchen Helfende?
Soziales Engagement und ehrenamtliche Hilfe zu leisten, kann uns eine Menge zurückgeben und wird von vielen auch in gewissem Maße als moralische Pflicht angesehen. Doch wer sich Helfende etwas näher anschaut, bemerkt meist schnell: Auch Helfende brauchen Hilfe – und zwar egal ob sie hauptberuflich oder freiwillig helfen.
Denn mit Menschen zu arbeiten, die aus schwierigen oder gar traumatisierenden Umständen kommen, ist anstrengend und belastend. Helfende erleben oft ein hohes Maß an Stress. Egal wie viel sie tun, es scheint nicht zu reichen. Oft fühlen sie sich selbst irgendwann der Situation nicht mehr gewachsen und hilflos.
Das kommt Ihnen von weiter oben bekannt vor?
Ganz richtig!
Zusätzlich zu „normalem“ Stress, der bereits bis zum Burn-Out führen kann, kann es bei Helfenden in gravierenden Fällen zu einer sogenannten sekundären Traumatisierung kommen:
Obwohl sie selbst nicht die traumatische Situation erlebt haben, entwickeln sie teilweise ähnliche Symptome, wie die Menschen, denen sie helfen, weil sie mit deren Erlebnissen langanhaltend konfrontiert werden und oft nicht gelernt haben, damit umzugehen.
Dann lieber nicht helfen? – Quatsch!
Sich jetzt ganz zurückzuziehen und die sprichwörtlichen Finger von Menschen mit Trauma-Erfahrungen zu lassen, ist natürlich auch nicht sinnvoll. Wenn Sie den Impuls haben, zu helfen, dann ja genau damit Sie sich nicht hilflos fühlen, damit Sie etwas für andere Menschen tun können. Sie würden sich kaum besser fühlen, wenn Sie wüssten, dass Menschen Hilfe brauchen, die niemand leistet, aus Angst vor Stress und Belastung.
Und es ist auch gar nicht so schwer beides zu schaffen: Helfen und auf sich selbst achten – wenn man einige Tipps beachtet:
Tipps zum Umgang mit Stress und Belastung (nicht nur) für Helfende
Viele Helfende neigen dazu, sich selbst zu überfordern. Im Angesicht des riesigen Elends, das ihnen begegnet, scheint der eigene Stress oft harmlos. Aber das ist ein Trugschluss. Nur weil es anderen noch schlechter geht, wird das eigene Leid ja nicht weniger.
Und es gibt einen weiteren gefährlichen Trugschluss:
Wenn Helfende sich erst ins Burn-Out gearbeitet haben, wer hilft dann? Und wer bleibt noch übrig um den Burn-Out Patienten zu helfen?
Wenn es ohnehin schon zu wenig von etwas gibt, dann müssen wir sorgsam und effizient damit umgehen, das gilt auch für unsere eigene Energie.
Selbstfürsorge ist kein Egoismus!
Das müssen wir zuallererst verinnerlichen. Hierzu gibt es einen schönen Vergleich:
In Flugzeugen finden wir oft Sicherheitsanweisungen, wie im Falle eines Druckabfalls in der Kabine mit den Sauerstoffmasken umzugehen ist. Viele Menschen sind verblüfft, wenn sie sehen, dass sie sich selbst zuerst versorgen sollen, auch wenn ihr kleines Kind neben ihnen sitzt. Unser Instinkt und unsere moralische Erziehung sagt uns etwas anderes. Das hilflose Kind zuerst! Aber wenn wir kurz darüber nachdenken ist es logisch:
Wenn ich gut versorgt bin, kann ich mich gut um die Hilfsbedürftigen kümmern.
Wenn ich aber selbst schon nach Luft schnappe, wird es mir schwerfallen, meinem vielleicht panischen zappelnden Kind die Maske aufzusetzen. Und selbst wenn ich es schaffe, bin ich danach möglicherweise schon zu benommen um nach meiner eigenen Maske zu greifen. Ich werde ohnmächtig und mein Kind reißt sich aus Angst die Maske wieder herunter. Am Ende ist so niemandem geholfen.
Genauso ist es auch im Alltag und bei sozialem Engagement: Entgegen dem, was die meisten von uns gelernt haben, ist es also nicht egoistisch, sich immer zuerst selbst zu versorgen, bevor man anderen hilft. Es ist dringend notwendig, damit wir auch langfristig weiter helfen können. Niemandem ist geholfen wenn Sie sich völlig ausbrennen und dann nicht nur nichts mehr leisten können, sondern selbst Therapie brauchen.
Ein paar Tipps zur Selbstfürsorge
Selbstverstehen
Machen Sie sich das Beispiel mit der Flugzeugsicherheit von oben bewusst!
Selbstfürsorge ist kein Egoismus! Stressbewältigung ist ein Grundbedürfnis!
Finden Sie heraus, wie und welche Stressoren bei Ihnen wirken,
in dem Sie sich folgende Fragen stellen:
- Was stresst mich?
- Welche Situationen sind (vielleicht auch erst im Nachhinein) belastend und lassen mich nicht los oder rauben mir die Energie?
- Wo habe ich vielleicht falsche oder zu hohe Erwartungen an mich oder Andere?
- Versuche ich gerade allein die Welt zu retten? 🙂
Schreiben Sie Ihre Antworten am Besten auf. Das hilft, sich zu gedanklich strukturieren und den Überblick zu behalten.
Selbstwahrnehmung
Im hektischen Alltag vergessen wir oft, überhaupt in uns hinein zu spüren und sozusagen Bestandsaufnahme zu machen.
Führen Sie ein regelmäßiges Check-In mit sich selbst durch, mindestens morgens und abends, am besten über den Tag verteilt:
- Wie geht es mir?
- Was kann ich noch leisten?
- Wo muss ich Abstriche machen, damit ich dauerhaft fit bleibe?
Aber auch banale Fragen wie:
- Brauche ich mal 5 Minuten frische Luft?
- Habe ich gerade Durst oder Hunger?
- Muss ich zur Toilette?
Auch diese Grundbedürfnisse zu lange zu ignorieren verursacht zusätzlichen Stress, dem man leicht Abhilfe schaffen kann, indem man sich kurz um die Versorgung dieser Bedürfnisse kümmert.
Damit Sie auch regelmäßig an Ihr Check-In denken, kann es helfen sich im Alltag kleine Erinnerungen einzubauen:
- Post-Its mit Check-In Fragen an Stellen kleben, die Sie regelmäßig sehen (Kalender, Bildschirm, Handyhülle, Badspiegel etc.)
- Handyerinnerungen: Stellen Sie Timer, Wecker oder Terminerinnerungen ein, die Sie an Ihre Selbstwahrnehmung erinnern.
- Check-In-Fragen in die To-Do-Liste integrieren (jeder 2. Punkt auf der Liste darf eine kurze Frage sein oder die Aufforderung sich mal kurz hinzusetzen, ein paar Schritte zu gehen, etwas zu trinken etc.)
- Rituale Etablieren: Gewöhnen Sie sich an, jeden Morgen wahrzunehmen wie es Ihnen geht und Ihren Tagesplan oder wenigstens Ihre Erwartungen an sich selbst soweit möglich daran auszurichten. Lassen Sie den Tag abends Revue passieren.
Selbstregulation
Machen Sie sich bewusst, was Ihnen hilft runterzukommen und die Akkus wieder aufzuladen.
Was tut Ihnen gut in verschiedenen Bedürfnisbereichen (Ruhe und Entspannung, Bewegung, Sozialkontakte, Kreativität & Stimulation (Hobbies), Genuss mit allen Sinnen)?
Auch hier hilft es angenehme Aktivitäten zur Selbstfürsorge strukturiert aufzuschreiben und sich sozusagen eine Wohlfühlliste zu machen.
Vielleicht wissen Sie auch gar nicht (mehr), wie Sie richtig entspannen können. Vielleicht möchten Sie mal ein Entspannungsverfahren in einem Kurs erlernen. Die gesetzlichen Krankenkassen bezuschussen hier viele Kurse (z.B. Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung, Yoga oder QiGong).
Selbstfürsorge
Bewusst Auszeiten planen:
„Erst die Arbeit dann das Vergnügen“, so haben es die meisten von uns gelernt.
Aber, wie die Werbung eines bekannten Baumarktes so schön sagt:
„Es gibt immer was zu tun.“
Und dann ist am Ende keine Zeit mehr für Erholung und Vergnügen übrig. Dabei sind Vergnügen bzw. Erholung und Selbstfürsorge kein Luxus, sondern ein wichtiges Grundbedürfnis, das oft genug versorgt werden muss, damit wir psychisch gesund und leistungsfähig bleiben. Das ist genauso wichtig wie Atmen, Trinken, Essen oder schlafen.
Für angenehme Aktivitäten oder auch Passivitäten, die Ihnen Energie zurückgeben, sollten Sie also auch regelmäßig Zeit einplanen. Machen Sie dazu feste Termine dafür und schreiben Sie sie in Ihren Kalender, damit diese Zeit nicht wieder vom Alltag verschluckt wird – auch wenn es am Anfang etwas seltsam ist, wenn da plötzlich eine Verabredung mit Ihrer Badewanne oder der Couch und einem Krimi steht.
Als Daumenregel empfehle ich für Selbstfürsorge folgendes Minimum einzuplanen:
½ – 1 Stunde pro Tag + ½ Tag pro Woche
Klingt utopisch für Ihren Alltag?
Dann müssen Sie vielleicht…
Prioritäten und Grenzen setzen
Machen Sie sich einen Wochenplan oder Tagesplan um die folgende Frage zu beantworten.
Wofür verwenden Sie ihre Zeit?
Wenn Sie schon arbeiten gehen, sich um die Kinder und die Haustiere kümmern, nebenbei noch Angehörige pflegen und den Haushalt machen müssen, dann haben Sie vielleicht schon etwas viele Aufgaben und sollten vielleicht Prioritäten setzen. Das heißt: Aufgaben abgeben um lebenswichtige Zeit für Selbstfürsorge zu schaffen.
Denken Sie daran: Die Priorität gegen die Sie wiegen ist Ihre Gesundheit! Vielleicht wiegen auch wichtige Werte, von denen wir uns sonst schwer trennen können dagegen etwas leichter (z.B. familiäres oder soziales Pflichtgefühl und finanzielle Bedürfnisse).
Grenzen gegenüber Anforderungen von außen
Lernen sie einen einfachen Satz auswendig, der ab jetzt Ihre Antwort wird, auf alle Anfragen beruflich oder privat: Der Satz geht so oder so ähnlich:
„Oh, das wird eng. Da muss ich erst in meinen Kalender schauen. Frag(en Sie) mich doch in 5-10 Minuten nochmal.“
Sie müssen gar nicht gleich Nein sagen. Es reicht oft schon, sich die Zeit zu verschaffen, zu überlegen, ob man Ja sagen oder sich doch auf ein Nein vorbereiten möchte. Und solange lassen Sie die Verantwortung für die Aufgabe noch bei dem, der fragt.
Ein weiterer Vorteil: Menschen die nur schnell eine Aufgabe loswerden wollten, kommen oft gar nicht wieder, weil sie es inzwischen doch selbst gemacht haben oder jemanden gefunden haben, der diesen Tipp nicht kannte. 🙂
Grenzen gegen eigene ungünstige Angewohnheiten
- Lassen Sie mal Fünfe gerade sein, statt Ihrem Perfektionismus freien Lauf.
- Stellen sie sich einen Wecker für Pausen und Wohlfühlzeit.
- Nehmen Sie Ihre Wohlfühlliste von oben und installieren Sie sie als Stolperstein vor der schlechten Angewohnheit Ihrer Wahl. Dann fällt es Ihnen vielleicht leichter, statt der schlechten Angewohnheit etwas zu tun, was Sie wirklich runterbringt.
- Sie neigen zum Naschen? – Hängen Sie die Liste an den Kühlschrank oder vor den Schnuckschrank.
- Sie versacken gern vor dem Fernseher? – legen Sie die Liste auf die Fernbedienung oder kleben Sie sie an den Bildschirmrand.
- Sie verdaddeln sich im Internet oder am Handy? – Probieren Sie die Liste mal als Bildschirmhintergrund oder laden Sie sich eine App herunter, die Ihren Konsum bestimmter Medien überwacht und Sie nach einem bestimmten Zeitintervall erinnert.
- Letzteres gilt vor allem, wenn Sie im Angesicht von Kriegen und Katastrophen dazu neigen zu „doomscrollen“, das heißt Sie schauen sich solange Bilder und Berichte von Krieg und Elend an, bis Ihre Stimmung abstürzt und sie völlig gelähmt oder verängstigt sind. Auch damit ist niemandem geholfen.
Selbstbestimmung erhalten
Jeder Mensch braucht Selbstbestimmung! Auch Helfende!
Natürlich haben wir allemal stressige Phasen und Krisen. Nicht alles davon suchen wir uns selbst aus und können es einfach abschalten. Und auch mit der besten Selbstfürsorge ist es nicht zu vermeiden, dass wir manchmal gestresst oder überfordert sind.
Wenn Sie aber das Gefühl haben, vielleicht schon länger nur noch im Hamsterrad zu laufen und völlig fremdbestimmt zu sein, dann läuft bei Ihnen möglicherweise etwas Grundlegendes bei der Stressbewältigung schief. Falls sie mit den Tipps oben so gar nicht weiterkommen, suchen Sie sich rechtzeitig Hilfe!
Meine (kostenlosen) Angebote für Sie:
Kostenlose Beratung für freiwillige Helfende
Sie helfen freiwillig/ehrenamtlich Geflüchteten und haben Fragen zum Umgang mit traumatisierten Menschen oder dem eigenen Stress in dieser Situation?
Ich biete Ihnen neben der Information hier auf meiner Homepage eine kostenlose psychologische Beratung an. Kontaktieren Sie mich einfach per Telefon (meist Anrufbeantworter) oder per Mail, gern auch schon mit Zeiten zu denen Sie gut Zeit haben und ich versuche Ihnen ein Terminangebot zu machen. Die Beratung kann entweder in meiner Praxis in Altenlotheim stattfinden oder online über den datenschutzkonformen Anbieter TheraPsy.
Es ist ein Beratungsangebot, das ich soweit irgend möglich, auch mit therapeutischen Ansätzen ausgestalten werde, um möglicherweise auch Menschen mit Therapiebedarf überbrückend zu helfen. Eine vollständige Therapie kann ich aber leider nicht kostenlos anbieten.
Für die Beratung ist es sinnvoll, wenn Sie sich die Inhalte und Tipps hier bzw. auf meiner Website schon mal durchzulesen und vielleicht eine erste Umsetzung zu versuchen. Dann können wir in der Beratung umso effektiver arbeiten. Wenn Sie aber gerade sehr unter Druck stehen oder ganz andere Fragen mitbringen, klappt eine Beratung natürlich auch ohne Vorbereitung.
Fortbildungen zu psychologischen Themen
Sie haben ein ehrenamtliches Helfendenteam, für das Sie sich eine kurze Fortbildung zu den Themen „Trauma und seine psychischen Folgen“ und/oder „Stressbewältigung für Helfende“ wünschen?
Kontaktieren Sie mich gern. Ich versuche auch hier zu schauen, was kostenlos möglich ist, online, in meiner Praxis oder in Ihren Räumlichkeiten in der Region Waldeck-Frankenberg.
Da ich selbst auch von meinen Angeboten lebe, kann ich nur ein gewisses Kontingent an Leistungen kostenlos anbieten. Deshalb gilt das kostenlose Angebot nur für freiwillige/ehrenamtliche Helfende und nur im Rahmen der Arbeit mit (potentiell) traumatisierten Menschen, weil diese oft besonders belastend ist. Es gilt also Ehrenamt für Ehrenamt.
Aber natürlich freue ich mich auch weiterhin über bezahlte Anfragen von hauptamtlichen Trägern oder für reguläre Stressbewältigung, Beratung, Coaching und Therapie (lt. Heilpraktikergesetz) oder Yoga-Unterricht. 🙂
Was ist mit den Betroffenen/Geflüchteten selbst???
Natürlich würde ich all das auch gern für Geflüchtete selbst anbieten. Leider spreche ich weder ukrainisch noch russisch. Wer halbwegs Deutsch oder Englisch versteht, dem versuche ich selbstverständlich gern zu helfen.
Wer die Fähigkeit und Interesse hat, Infomaterial zum Thema Trauma für Betroffene ins Ukrainische oder Russische zu übersetzen, meldet sich gern bei mir und wir versuchen gemeinsam, etwas hilfreiches auf die Beine zu stellen.